Den Playboy wegen der Interviews kaufen

Die Liebe zerbrach 1999 im Anstieg zu Sestrières. Bis dahin hatte ich mir alles noch schönreden können. Jan Ullrich? Galt als Jahrhundertalent. Marco Pantani? Welch ein Kletterwunder. Miguel Induraìn? Beeindruckend seine Physis, sein Stil atemberaubend schön. Doch als ich an jenem 13. Juli sah, wie Lance Armstrong mühelos im schnellen Stakkato an sämtlichen Konkurrenten vorbeizog, war es vorbei. Diese Leistung war nur noch durch eine neue Dimension des Dopings zu erklären. Die legendäre "Tour der Leiden" war Geschichte, denn während früher Helden wie Stephen Roche nach der Bergankunft unters Sauerstoffzelt getragen werden mussten, gaben ihre Erben, kaum vom Rad gestiegen, gelassen ihre Interviews. Das war nicht mehr, der Radsport, den ich kannte. Das war und ist pervers.

In diesen Moment nahm ich Abschied von der Tour de France. Ich schaltete den Fernseher aus.



Dass ich ahnte, was lief, lag auch an meinem eigenen Fahrstil in den Bergen. Mit den heutigen Kompaktkurbeln, die komfortable Übersetzungen von 34/30 oder gar 34/32 erlauben, kommt im Grunde jeder die Berge hoch. Früher jedoch war die kleinste Übersetzung, die mir am Rennrad zur Verfügung stand, 42/26. Ich bin groß gewachsen und vergleichsweise schwer, um eine Chance zu haben, diesen Körper einen Pass hochzuwuchten, musste ich die Frequenz hochhalten und möglichst flüssig treten. Hohe Trittfrequenz hart am Rande der Laktatgrenze, das war meine einzige Chance anzukommen, meine Kraft reichte so für ca. 600 Höhenmeter, also einen mittleren Dolomitenpass. Steilere Passagen, höhere Pässe waren für mich aussichtslos, das Stilfser Joch wäre ich nie hochgekommen. Und nun fuhr Armstrong diesen Stil nicht nur über Kilometer, sondern er deklassierte damit auch noch die gesamte Konkurrenz. Unmöglich. Er hätte explodieren müssen.

Heute wissen wir grob, mit welchen Mitteln gearbeitet wurde: EPO, Dynepo, Eigenblut, Testosteron, Anabolika. Doch selbst dieser Horror-Cocktail erklärt die Leistungen jener Ära nur ansatzweise. Es werden andere Mittel im Spiel gewesen sein. Zu jener Zeit starben reihenweise Nachwuchsfahrer im Schlaf. Ein tödliches Spiel.

Der Radsport hat nicht nur seine Unschuld verloren, wie es so oft heißt; er ist ein Puff, heute mehr denn je. Bei der aktuell laufenden Tour wurde auf einzelnen Etappen die kalkulierte Durchschnittszeit bis zur Zielankunft deutlich unterboten. Die individuellen Leistungswerte sind absurd hoch, Marco Pantanis einst zur EPO-Hochphase auf der Strecke nach Alpe d'Huez erzielter Bestwert, der zwischenzeitlich als eine Art Doping-Marker galt, ist mehrfach wieder erreicht worden. Nichts hat sich verändert.

Warum ich dennoch wieder die Tour schaue? Es sind die Berge! Ich sehe die Fahrer, die den Col du Galibier, Izoard oder Mont Ventoux hochziehen. Ihre Namen interessieren mich nicht. Stattdessen begeistere ich mich für die Landschaften, die Straßen und Pässe, ich zähle jede Kehre. Im Geiste fahre ich jeden einzelnen Meter mit, spüre die Leiden des Anstiegs, stürze mich in die Abfahrten. Wer gewinnt, ist mir egal. Ich fiebere nicht mehr mit.

Es ist, als würde man den Playboy wegen der Interviews kaufen.

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