"Steel is real"


Vintage Bike Guide die Welt der Stahlklassiker

Vor ein paar Sommern saß ich mit einem Freund vor der wundervollen Bar Roosen auf St. Pauli, und während wir über dies und das plauderten, rollte ein Mädel auf einem alten Rennrad vor uns die Straße entlang; ich nippte an meinem Cappuccino und ein Typ auf einem alten Rennrad zog an uns vorbei, ihm kam ein anderer Typ auf einem Rennrad entgegen und dann kam auch schon das nächste alte Rennrad herbeigefahren.

Auf einmal umcruisten mich überall Pinarellos, Peugeots, Gios Torinos, Merciers, Eddy Merckxens ... Die Träume meiner Jugend, die Crème de la crème des Achtziger-Jahre-Rahmenbaus. Nanu, was war denn hier los?

Man kann der Großstadtjugend ja einiges vorwerfen, zu nennen wären absurde Bärte, T-Shirts mit riesigrotem Levi’s-Emblem, laktosefreier Chai Latte Macchiato, glutenfreier Veganismus, überhaupt Orthorexie. Aber das hier ist mal ein Trend genau nach meinem Geschmack: Alte Rennräder sind total angesagt. Gute Sache. Nur, wisst ihr eigentlich, was ihr da fahrt? Interessiert euch das? Kult oder cool – woran erkennt man einen echten Stahlklassiker?

Deshalb habe ich einen kleinen Vintage Bike Guide geschrieben; Geschichten aus einer Zeit, als Radhosen noch kratzige Wollsäcke waren.


1. Prolog 

Als ich diese Zeilen niederschrieb, habe ich oft überlegt, ob das Ganze wohl zu sehr in Richtung eines Style-Guides abdriften könnte, denn genau so etwas will ich nicht: Ich möchte keine Regeln aufstellen, keine unsinnigen dos or don’ts verfassen, wie man sie von irgendwelchen blasierten Szene-Affen der großstädtischen Was-mit-Medien-Szene kennt. So etwas lehne ich aus tiefstem Innern heraus ab.
Es ist nur so: Mein Verhältnis zu Rennrädern ist seit frühester Jugend geradezu libidinös, wenn ich an edle Teile denke, dann sind das in erster Linie Schaltungen, Kurbeln und Bremsen aus blankpoliertem Alu. Und vielleicht interessierst auch du dich, neben der puren Lust am Pedalieren, zufällig für die Geschichte hinter den Rennradklassikern: Wo kommt das ganze Zeug überhaupt her? Dann wünsche ich dir viel Spaß beim Lesen.




Kalkhoff - schöne Räder aus Cloppenburg.





2. Was ist überhaupt ein Vintage Bike? 


Seit ein paar Jahren gibt es für Liebhaber historischer Rennräder eigene Rennen und Festivals. Die renommierteste Veranstaltung dieser Art ist die toskanische „L‘Eroica“, deren Strecke etwa zur Hälfte über die legendären „strade bianche“, die weiß geschotterten Wege der Chianti-Region führt. Die Vorgaben für diese Traditionsrennen sind so simpel wie eindeutig: Stahlrahmen, mindestens dreißig Jahre alt, Bremszüge nicht am Lenker verlegt, keine positionierende Schaltung, keine Klick-Pedale.

Stahlrahmen, kein Schnickschnack, kein Carbon. Das also ist laut offiziellem Reglement grob ein Vintage Bike. 


Die Technik ist einfach, aber nicht ohne Tücken. Insbesondere  Schaltwerke französischer Provenienz vollziehen den Gangwechsel häufig nur unter gutem Zureden, und manche Bremsen verdienen ihren Namen nicht. Tretlager und Naben bedürfen gelegentlicher Schmierung, die schmalen Alu-Felgen neigen zu chronischer Unwucht, Speichen können reißen. Mir ist auf einer Radtour in den Achtzigern sogar mal der gesamte Nabenflansch mit drei Speichen ausgerissen, und das ausgerechnet in der totalen Abgeschiedenheit der Hocheifel. Es folgte eine Odyssee per Anhalter bis nach Trier. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir der suizidale Fahrstil eines professionellen Bombenentschärfers vor Hellenthal. Der fürchtete weder Tod noch Teufel.

Wie bei allem, wo Vintage draufsteht, ist das gesamte System defektanfälliger, als es moderne Räder sind. Erschwerend kommt hinzu, dass im Radsport der Streit um technische Normen ausgerechnet zwischen Briten, Franzosen und Italienern ausgetragen wurde. Jenen Nationalitäten also, die unter anderem die Concorde, den Brexit, den Fiat Uno und die hydropneumatische Federung zu verantworten haben. Willkommen in der Vorhölle. Rechne mit vielen wechselnden Standards. Völlig überraschend kann ein Linksgewinde auftreten. Und wenn du etwas selbst reparieren oder gar nur das Tretlager neu einstellen willst, benötigst du sehr seltsames Werkzeug. Halte am Besten schon mal Ausschau nach einem Fahrradmechaniker fortgeschrittenen Alters, der dir im Ernstfall weiterhilft.

Aufgezogen waren meist Schlauchreifen, bei denen der Schlauch in den Mantel eingenäht war. Im Pannenfall konnte man den gesamten Reifen wegwerfen, und der war teuer. Oder aber man trennte die Naht auf, flickte das Loch, versuchte den Reifen wieder zuzunähen, und nachdem man sich mit der Ahle zum dritten Mal fast bis auf den Knochen in den Finger gestochen hatte, schmiss man den Pneu dann doch weg. Erst spät konnten sich die praktischeren Drahtreifen durchsetzen.

Dies sind nur ein paar der Unzulänglichkeiten, die mit dem Kauf eines Klassikers einhergehen. Doch im Gegenzug bekommt man jede Menge Charme. Ein Fahrrad ist immer auch ein Glücksversprechen, jedes verheißt dir auf seine Weise Lebensfreude und Freiheit. Welches Rad dich ganz persönlich glücklich macht, hängt auch davon ab, wofür du es haben willst: Als Sportgerät, Einrichtungsgegenstand oder als mobiles Statement, um vor der Uni-Bibliothek maximalen Eindruck zu schinden oder ganz pragmatisch zum Fahren? Suchst du irgendein Rennrad oder den Edel-Italiener mit originaler Campa-Komplettausstattung? Je nachdem kann der Preis zwischen Sperrmüll und ein paar tausend Euro schwanken.

Mich persönlich interessieren vor allem echte Rennräder. Doch es gibt eine sehr stilvolle Alternative. Welche, das verrate ich in Folge 2. 🤓

Vintage Bike Guide:

Zweiter Teil.
Dritter Teil.


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