"Steel is real" – Teil II

Vintage Bike Guide die Welt der Stahlklassiker 

3. Der Randonneur

Raleigh-Katalog
Euer Objekt der Begierde ist mit Schutzblechen, Beleuchtung und einem Gepäckträger ausgestattet? In diesem Fall handelt es sich um einen sogenannten Randonneur; das waren sportliche Reiseräder, die Ende der Siebziger Jahre zuhauf an jedem Schulhof zu finden waren. Sie boten solide Technik zu einem fairen Preis und verbanden Sportlichkeit mit praktischem Nutzen: Schnell die Badeklamotten auf den Gepäckträger geklemmt und ab ging’s mit Annette, Jens und Birgit zum nächsten Baggersee! Das war der Sommer ՚82.

Erfunden haben dieses äußerst lässige Rad, wie der Name schon erahnen lässt, die Franzosen, und von daher stammen die schönsten Exemplare auch von Marken wie Motobecane, Peugeot, Mercier, Gitane. Für uns deutsche Bengel hieß es trotzdem Rennrad. Hauptsache, gebogener Lenker.

Für Frauen gab es Mixte-Rennräder mit niedrigerem Oberrohr und flachem Lenker. Très chic! Wer einen guten Randonneur sein Eigen nennt, kann sich glücklich schätzen. Billigere Exemplare allerdings bestehen vor allem aus Sollbruchstellen. Die Schutzbleche korrodierten schneller als ein Alfasud in Salzlake, die Bremsen waren eher Deko, und die morschen Tretlager mit Stanzblech-Schalen kollabierten garantiert dann, wenn man weitestmöglich von der eigenen Haustür entfernt war. Zur Erinnerung: Das Handy war noch nicht erfunden, und wenn man nach Kilometern schiebend und fluchend endlich eine Telefonzelle erreicht hatte, fehlte einem garantiert der dritte Groschen, um Papa anzurufen und sich abholen zu lassen.

Ich hatte Glück, mein Rixe quittierte seinen Dienst damals nur wenige hundert Meter entfernt von einem niedersächsischen Landgasthof. Ich musste nicht weit schieben.

Kostet nicht viel, ist cool. Ein Randonneur ist immer eine gute Wahl, auch wenn er kein Rennrad ist.


4. Der Rahmen – oder: „Löten ohne Lötzinn ist Blödsinn“

Bis Ende der Achtziger Jahre wurden so gut wie alle Rennradrahmen in Handarbeit aus Stahlrohrsätzen zusammengelötet. Hersteller wie A.L.A.N. oder Look hatten zwar aus Gründen der Gewichtsersparnis bereits vorher mit dem Werkstoff Aluminium experimentiert, meist wurden dabei dünne Alurohre in Muffen geklebt, das Ergebnis aber war zweifelhaft. Diese Räder waren bestenfalls Radlern von der Statur einer Elfe zuzumuten, schwerere Fahrer zerlegten es mit dem ersten kräftigen Antritt, und auf der Abfahrt wabbelte das Alugeröhr wie gekochte Makkaroni. So blieb der handgelötete, gemuffte Stahlrahmen lange die Norm.



Moment! Die Rahmen wurden gelötet, nicht geschweißt? Ja, weil ein hochwertiger Rennradrahmen sich aus zwei Bestandteilen zusammensetzte: Den Stahlrohren und den Muffen, die sie zusammenhalten, und diese beiden Komponenten mussten miteinander verbunden werden. Zu große Hitze lässt den Stahl jedoch spröde werden, deshalb kam das Schweißen als Verbindungstechnik nicht in Frage. Doch auch das Löten hat seine Tücken. Die Rohre müssen passgenau ausgerichtet sein und sie dürfen nicht unter Spannung stehen. Dafür werden sie vorab in eine sogenannte Rahmenlehre eingespannt.

Doch auch beim Löten kann die Temperatur zum Problem werden: Das Lötzinn sollte nur so weit erhitzt werden, dass es in den Spalt zwischen Rohr und Muffe kriechen kann und zwischen beiden eine flächige Verbindung herstellt. Wird zu heiß gelötet, werden auch die Muffen mit erhitzt, sie schmilzen und das Material wird spröde. Rahmenbrüche sind die Folge.

Und so mussten Rahmenbauer sehr sorgfältig arbeiten. Der Lötvorgang verzeiht keine Fehler. Deshalb gilt der Rahmenbau als hohe Handwerkskunst, und am besten beherrschen sie seit jeher die Italiener. Vergleiche zu einer Stradivari dürfen gezogen werden.

Hat der Meister sauber gearbeitet, ist das Ergebnis ein leichter, langlebiger, elastisch federnder Stahlrahmen. Ein Kunstwerk ist entstanden, genau das, was wir lieben!



5. Das Material
Verwendet wurden für die Stahlrenner nahtlos gezogene Rohre. Ein Verfahren, das Ende des 18. Jahrhunderts Herr Mannesmann in Remscheid entwickelt hatte: Die Rohre werden über einen sogenannten fliegenden Dorn hinweg durch einen Ring gezogen, die sogenannte Matritze... Ach, schaut doch selbst:

Nahtlos gezogene Rohre (ab 05:29)

Den Markt für hochwertige Rohrsätze dominierten lange zwei europäische Hersteller: Reynolds aus England und Columbus aus Italien. Seltener findet man Rahmen aus Rohrsätzen des japanischen Herstellers Tange, die aber ausgezeichnet sind, und auf den letzten Drücker stieg auch noch Mannesmann in den Markt ein. Da allerdings hatte der Siegeszug des Alurahmens bereits begonnen.

Traditionsrohr Reynolds 531
Manchmal wurden auch eigene Rohrsätze verlötet, zum Beispiel von Koga Miyata. Aber da kenne ich mich nicht aus, womöglich handelte es sich um Fälle von „badge engineering“ und es wurde einfach nur ein anderer Sticker auf den Rahmen draufgepappt.

Bei einfachen Stahlrennern fand häufig das Columbus-Aelle-Rohr Verwendung, solides Material, aber etwas schwer, und meist auch nicht so liebevoll verarbeitet.

Edleres Geröhr wie Columbus SL/SLX oder Reynolds 531 ist zusätzlich noch „konisch gezogen“, das heißt, die Wandstärke der Rohre nimmt von außen zur Mitte hin ab. Das spart Gewicht, ohne Stabilität und Verwindungssteifigkeit zu beeinträchtigen. Man spricht von „butted“ (einfach konifiziert), „double butted“ (zweifach konifiziert) oder „triple butted“ (dreifach konifiziert). Den Vogel schoss in dieser Hinsicht Reynolds mit seinen 753er-Rohren ab: Hier sind die Außenwände teils zarte 0,3 Millimeter dünn! Schon schon ein kleiner Stupser konnte reichen, um eine Delle ins Rohr zu drücken. Rahmen dieser Qualität sind so rar wie teuer, man findet sie vor allem bei Bahnrädern. Und weil sie so empfindlich sind, würde ich sie auch nicht auf der Straße fahren. Sie machen sich bestimmt gut hinter Glas.


Reynolds 531 und 753, Mannesmann Oria, Columbus SL/SP oder SLX: Das alles waren Top-Rohre. Doch auch Tange produzierte mit Tange Prestige oder auch Tange Champion No. 1 hervorragende, leichte Rohrsätze für exzellente Räder. Die meisten blieben aber in Japan, Tange-Rahmen waren bei uns recht selten zu bekommen. Ab Anfang der Achtziger Jahre fertigte Centurion daraus hinreißende Rennräder wie das „Le Mans“ und das „Professional“, später drängten japanische Hersteller wie Nishiki, Norta oder Panasonic damit auf den europäischen Markt.

Die Rohre sind die Basis. Aber schaut euch schließlich noch die Anlötteile, Ausfallenden, Gravuren und Verzierungen eines Rahmens an: Wie fein ziseliert und liebevoll hier im Detail gearbeitet wurde, sagt schon einiges über die Qualität des Rahmens aus, billige Stanzteile hingegen sind nicht wirklich sexy.

Italienische Rahmenbauer kannten, was das Dekor betrifft, überhaupt keine Hemmungen, die haben ihr Logo überall hineingraviert, wo gerade Platz war. Kein Metallteil war vor ihnen sicher. Und dann wurde die Gravur noch bunt ausgemalt. Hohe Handwerkskunst, klar, aber optisch gern mal die Kategorie Zuckerguss.

Es ist immer etwas Besonderes, einen Klassiker zu fahren. Aber woher rührt die Liebe zum Stahl? Vermutlich liegt es daran, dass jedes dieser Räder ein Unikat ist, jedes versprüht seinen eigenen, individuellen Charme. So ein Schätzchen lebt! Doch es gibt ein Kriterium, das einen Klassiker endgültig zur Legende erhebt, und das ist die Marke!


6. Die Marken

Muss es immer ein Italiener sein? Auch andere Mütter haben schöne Töchter, und es gab so viele wundervolle Marken: Peugeot, Mercier, Gitane, Batavus und Gazelle, Koga Miyata und Eddy Merckx, Puch und Simplon aus Österreich, Cilo Swiss; aus Deutschland fallen mir spontan Krautscheid, Kotter, Rickert, Herkelmann oder auch Centurion ein. Hinreißend schöne Räder, echte Klassiker. 

Ein Eddy Merckx in Perfektion

Mein erstes echtes Rennrad etwa war ein Raleigh „Team“ in Rot, Gelb und Schwarz, den Farben des Profi-Teams von TI-Raleigh. Ich habe es geliebt. Die Fahrer stachen damals nicht nur des markanten Designs wegen im Profi-Peloton hervor, das Team stellte mehrere Klassikerkönige, Joop Zoetemelk gewann 1980 die Tour, und Dietrich Thurau absolvierte 1977 seinen legendären Erfolgsritt im Gelben Trikot für TI-Raleigh. Die Team-Räder werden heute hoch gehandelt.

 Zoetemelk auf der 16. Etappe hoch nach Pra Loup.

Italiener oder nicht: Jede Marke erzählt ihre eigene Geschichte. Und mal ehrlich: Unter italienischer Flagge war auch einiges an Blendwerk unterwegs, so wie die wohlklingende Marke „Barellia“, die vom Frankfurter Versender Brügelmann vertrieben wurde. Gute Dutzendware, mehr nicht. Vermutlich aus Taiwan. Und was einige Tifosi zwischenzeitlich zusammenlöteten, ging auf keine Kuhhaut, zwischen Muffe und Rohr klafften da gern mal millimeterdicke Spalte; renommierte Hersteller wie Bianchi produzierten mehr Masse als Klasse.

Mythos hin, Mythos her: Nüchtern betrachtet ließ die Qualität bei vielen Italienern in den Achtzigern nach, und als dann die leichteren Alurahmen auf den Markt drängten, verloren sie sich endgültig in unsinnigen Experimenten und wilden Farbexzessen, mit denen sie die mangelnde Innovationskraft zu übertünchen suchten. Nur wenige Manufakturen, Pinarello etwa oder De Rosa, wurden noch ihrem Ruf gerecht.


Fausto Coppi
Und doch schlägt beim Anblick eines kobaltblauen Gios Torino in Campa-Komplettausstattung mein Herz höher. Warum nur? Bianchi, Cinelli, Ciöcc, Colnago, De Rosa, Gios, Guerciotti, Milanetti, Pinarello, Tommassini, Vicini ... Es ist nicht nur der besondere Klang dieser Namen. Wo sonst gibt es diese leichte Eleganz, die Verspieltheit und Leidenschaft bis ins kleinste Detail? Ein italienischer Renner hat immer etwas Besonderes, er ist Ausdruck einer großartigen Tradition edler Heroen wie Gino Bartali oder Fausto Coppi. Die Tifosi haben ihrem Sport Kapellen und Kirchen gewidmet – die heute Pilgerstätten für Radsportfans aus aller Welt sind! Und all das, diese Tradition, die Liebe zum Sport, spürt man, wenn man einen Italo-Renner in den Händen hält.

Es stimmt, der Name ist nicht alles. Jedes Rad hat seine Geschichte, jedes seinen Wert. Aber wenn du einen schönen Italiener bekommen kannst, nimm den!

Madonna del Ghisallo

Vintage Bike Guide:
Erster Teil.

Dritter Teil.


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